“Ein herrlicher Anblick in tiefster Verlassenheit” schrieb vor 100 Jahren Siegmund Freud über Segesta. Ganz so verlassen ist es im Archäologischen Park von Segesta heute nicht mehr. Der herrliche Anblick ist geblieben und der Ausblick ist vielleicht noch wunderbarer als damals.
Ich war spät dran, das Schild an der Kreuzung war schlecht lesbar, aber die Richtung stimmte. Also bog ich ab. Das nur ein Feldweg zum Archäologischen Park von Segesta führen sollte, fand ich zu dem Zeitpunkt nicht ungewöhnlich. Heute weiß ich es besser. Im Schritttempo fuhr ich weiter, doch nach ein paar Kilometern landete ich nicht bei den antiken Ruinen, sondern bei einem modernem Ökobauernhof mit Hotelbetrieb. Also den Feldweg im Schritttempo wieder zurück. Nach einer weiteren halben Stunde war ich wieder an der Straßenkreuzung.
Jetzt fällt die Entscheidung in welche Richtung ich fahren muss nicht schwer, es bleibt nur eine Option übrig. Nach 5 Minuten und 500 Metern Straße bin ich beim Archäologischen Park von Segesta. Den Mietwagen schnell geparkt und los, ein Ticket kaufen. Zum griechischen Theater auf dem Monte Barbaro fährt alle 30 Minuten ein Shuttlebus. Leider fährt er gerade ab. Ohne mich. Statt noch mehr Zeit zu vertun, nehme ich den Trampelpfad bergauf. Das schaffe ich in 30 Minuten, denn der nächste Shuttle-Bus hält gerade, als ich oben ankomme. Immerhin: Wer auf die Idee gekommen ist, hier oben einen Getränkeautomaten aufzustellen und die Preise zivil zu halten, dem sei gedankt!
Da vom antiken Bühnenhaus nichts mehr außer den Fundamenten steht, ist der Ausblick überwältigend. Der Blick reicht bis zum Golf von Castellamare. Durch das Tal schlängelt sich die Autostrada 29, stellenweise wie ein Aquädukt. Das griechische Theater hier heißt nicht etwa griechisches Theater, weil es Griechen erbaut haben oder es unter griechischer Herrschaft errichtet wurde. Segesta war ein Zentrum der Elymer, einem Volk das der Legende nach von Trojanern abstammt. Tatsächlich lag Segesta sogar in Dauerfeindschaft mit der 50 Kilometer entfernten griechischen Stadt Selinut. Das Theater wurde in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts vor Chr. erbaut, als die Stadt schon zum Römischen Reich gehörte. Etwa 4000 Zuschauer fasste das Theater in dieser Zeit. Heute wird es wieder in den Sommermonaten bespielt.
Berg runter geht es leichter und schneller, vor allem da ich jetzt den Bus nehme. Nach drei Minuten Fahrt lässt uns der Busfahrer am Eingang des archäologischen Parks heraus und ich mache mich auf den Weg zum Tempel. Der liegt außerhalb der damaligen Stadtmauern auf einem Hügel. Nicht so hoch gelegen wie das antike Theater, aber in erhöhter Lage. Davor liegt eine Schlucht, die der Fluss seinerzeit in die Landschaft geschnitten hat. Hinter dem Tempel erhebt sich wieder eine Hügelkette. Man kann den Wegweisern zum Theater folgen, jetzt in entgegengesetzter Richtung.
In der Abendsonne wirft der dorische Ringhallentempel im Archäologischen Park von Segesta schon lange Schatten als ich ankomme. Der Tempel von Segesta aus dem Ende des fünften Jahrhundert vor Chr. ist einer der besterhaltenen antiken Tempel und – praktisch unbenutzt. Dass der Bau unvollendet ist, erkennt man besonders deutlich an den Säulen, die noch eine mehrere Zentimeter dicke Transportschutzschicht umgibt. Die typischen senkrechten Eintiefungen, die Kanneluren, sind auch noch nicht ausgeformt worden. Vom inneren Hauptraum des Tempels, der Cella, fehlt ebenso jede Spur, wie von einem Dach. Warum er seinerzeit in diesem für die Elymer untypischen Stil gebaut wurde, ist nach wie vor ein Rätsel.