Fast unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit eröffnete am 14. Oktober 2020 in Rom eine bemerkenswerte Ausstellung: 92 antike Skulpturen aus der Torlonia-Sammlung werden erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder gezeigt.
Die Antikensammlung der italienischen Adelsfamilie Torlonia ist ebenso legendär wie geheimnisumwittert. Über den Kunstkrimi hat Ute Diehl im Art-Magazin geschrieben. Den Grundstein für die weltweit größte private Antikensammlung legte Giovanni Torlonia, als er im Jahr 1800 Skulpturen aus dem Nachlass des Bildhauers und Restaurators Bartolomeo Cavaceppi ersteigerte. Das Geld dafür kam aus den Finanz- und Immobiliengeschäften der Familie. Nicht schlecht, wenn man bedenkt das sein Vater noch ein eingewanderter Ziegenhirte aus der französischen Auvergne war.
Später wurden Stücke aus dem Bestand der Familie Giustiniani hinzugekauft und 1875 richtete Giovannis Sohn Alessandro Torlonia ein Museum für die Sammlung ein: die insgesamt 620 Exponate wurden in 77 Sälen ausgestellt. Oder besser gesagt: aufgestellt. Denn zu sehen bekam die Sammlung fast niemand. Selbst Archäologen kannten nur die Fotos aus dem zum Privatgebrauch bestimmten Katalog. In den 1960er Jahren wollte der nächste Torlonia, wieder ein Alessandro, aus den Museumssälen Eigentumswohnungen machen. Die Skulpturen kamen in den Keller und gammelten vor sich hin. Die Stadt Rom klagte wegen der fehlenden Baugenehmigung und verlangte den öffentlichen Zugang zu der Sammlung. Der Prozess verjährte, im Parlament dachte man laut über eine Enteignung nach. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi bot an, die Sammlung für 130 Millionen Euro zu kaufen, um sie dem italienischen Staat zu schenken. Familienpatriarch Alessandro Torlonia war jedoch weder zum Verkauf noch zur öffentlichen Ausstellung seiner Antikensammlung bereit. In den letzten Jahren näherten sich beide Seiten an: Die Torlonias überführten die Sammlung in eine Stiftung und der italienische Staat erklärte sich bereit, ein Museum für die Sammlung Torlonia zur Verfügung zu stellen.
Die erste konkrete Maßnahme ist jetzt die Ausstellung The Torlonia Marbles: Collecting Masterpieces die am 14. Oktober 2020 ihre Pforten öffnete. Gezeigt werden bis 29. Juni nächsten Jahres 92 Meisterwerke der Sammlung aus der Zeit des fünften Jahrhunderts vor Christus bis ins vierte Jahrhundert. Für die Ausstellung bekamen die Kapitolinischen Museen ein weiteres Ausstellungshaus, die Villa Caffarelli. Die Restaurierung der Torlonia-Skulpturen hat das Luxus-Label Bulgari gesponsert.
Ein paar Tage vor Ausstellungseröffnung habe ich mir online ein Ticket gebucht. Aufgrund der Corona-Pandemie ist die Anzahl der Besucher limitiert. In meinem Zeitfenster 10:30 Uhr bin ich fast der einzige Ausstellungsbesucher der jetzt hinein will. Ticket vorzeigen, Sicherheitscheck, Temperaturmessung und schon geht es los.
Der Saal 1 in der Villa Caffarelli erinnert an das Museum Torlonia von 1875 und zeigt die einzige Bronze in der Sammlung: eine Statue des Feldherren und zukünftigen Kaisers Germanicus. Daneben stehen drei berühmte Porträts und so etwas wie die Werbefiguren der Ausstellung: das Mädchen, der sogenannte Euthydemus und der alte Mann aus Otricoli. Schließlich zwanzig Porträts von römischen Kaisern und ihren Ehefrauen.
Hinter der 2,10m hohen Bronzestatue des Germanicus zeigt die Galerie der Büsten in der ersten Reihe ein seltenes Portrait von Fulvia Plautilla. Sie war von 202 bis 205 die Frau des späteren römischen Kaisers Caracalla. Dahinter sind der römische Kaiser Antoninus Pius und sein Nachfolger Marc Aurel zu sehen. Ganz hinten platziert sind Agrippina die Ältere, Ehefrau von Germanicus, Flavia Domitilla die Jüngere, Tochter des römischen Kaisers Vespasian und Vespasian selbst.
Im Saal 2 werden Skulpturen von Ausgrabungen beispielsweise entlang der Via Appia in Rom, wie von der Villa der Quintilier oder der Villa des Maxentius, ausgestellt. Darunter drei männliche Athleten, römische Kopien griechischer Originale des fünften und vierten Jahrhunderts vor Christus. Außerdem eine Statue der Eirene mit Plutos, die Frieden und Reichtum symbolisiert. Im Zentrum des Saales befindet sich die Figurengruppe “Einladung zum Tanz”, mit einem lebensgroßen Satyr und einer sitzenden Nymphe.
Ebenfalls in Saal 2 ist ein Sarkophag mit den Heldentaten des Herkules ausgestellt. Die figürlichen Darstellungen zeigen die Geschichte aus der griechischen Mythologie mit den zwölf Aufgaben die Herkules lösen muss, um an deren Ende als Held in den Olymp aufgenommen und unsterblich zu werden.
An einem weiteren Sarkophag ist der sogenannte indische Triumph des Weingottes Dionysos dargestellt. Das Gorgonenhaupt in der Mitte des Sarges ist umgeben von zwei geflügelten Siegesgöttinnen. Zu ihren Füßen sitzen zwei Gefangene. Auf dem linken der beiden Streitwagen steht Dionysos und wird von einem Satyr gestützt. Auf dem Marmorsarg liegt eine junge Frau mit idealisiertem Gesicht auf einer Ruheliege mit aufgebogenem Kopfende.
Der übernächste Saal 4 ist Stücken aus der Villa Albani und aus dem Atelier des Bildhauers Bartolomeo Cavaceppi gewidmet, dem wohl bedeutendsten Restaurator antiker Skulpturen des 18. Jahrhunderts. Seine Werkstatt durchliefen mehrere Tausend Statuen, Porträtbüsten und Köpfe, die an europäische Adels- und Königshäuser verkauft wurden. Seine Art, die meist unvollständigen Skulpturen mit anderen antiken oder zeitgenössischen Teilen zu ergänzen, hat maßgeblich unsere Wahrnehmung antiker Statuen und Büsten beeinflusst. Beraten wurde Cavaceppi von dem Begründer der wissenschaftlichen Archäologie Johann Joachim Winckelmann.
Präsentiert wird in der Torlonia-Ausstellung unter anderem der sogenannte Ptolemaios, eine Restaurierungsarbeit von Cavaceppi. Der Monumentalkopf soll Ptolemaios XIII. darstellen, zeitweise König von Ägypten und jüngerer Bruder Kleopatras. Spätere Analysen schreiben den Kopf mit den stark idealisierten Gesichtszügen eher Antinoos zu, Günstling und Geliebter des römischen Kaisers Hadrian oder dem griechischen Gott Apollo. Im Hintergrund des Bildes steht eine Karyatide. Diese weiblichen Figuren wurden verbaut, um anstelle einer Säule ein Dachelement zu tragen.
In einer Nische zwischen zwei Ausstellungssälen zeigt die Torlonia-Ausstellung zwei Statuetten aus der einstigen Giustiniani-Sammlung: Apollo mit der Haut des Marsyas. Der Satyr aus dem Gefolge der Göttin Kybele glaubte besser Flöte spielen zu können als der Gott Apollo. Er verlor im Wettstreit und wurde dafür gehäutet. In der griechischen Mythenwelt gilt Marsyas als Beispiel für Hochmut, der von den Göttern bestraft wird.
Im anschließenden großen Saal 7 sind weitere Giustiniani Büsten und Statuen ausgestellt, die 1816 von Giovanni Torlonia erworben wurden. An einer Seitenwand werden zwölf intakte und restaurierte Porträtbüsten präsentiert, darunter ein Kolossalportrait von Kaiser Claudius als Jupiter. Er trägt eine Bürgerkrone (corona civitas), eine der höchsten militärischen Auszeichnungen im Römischen Reich. Eine andere Büste zeigt den Kopf eines Mann mit fülligem Gesicht und Doppelkinn. Der Charakterkopf ist vermutlich einem Senator aus hadrianischer Zeit nachempfunden. Bekanntgeworden ist die Büste als sogenannter Vitellius. Aulus Vitellius war im Vierkaiserjahr 69 einige Monate römischer Herrscher und unterlag im Bürgerkrieg dem späteren Kaiser Vespasian.
Der Saal zeigt auch zwei Kopien der kauernden Aphrodite von Doidalsas aus dem 3. Jahrhundert vor Christus. Der Kopf der Aphrodite wurde von dem Bildhauer, Maler und Restaurator Pietro Bernini restauriert. Eine weitere Aphroditestatue kommt als Gruppe mit ihrem Sohn Eros und dem Meeresungeheuer Ketos.
An der Rückwand des Saales steht in der Mitte eine Statue der Göttin Hestia. Sie ist flankiert von zwei Isis-Figuren aus dunkelgrauem Marmor, die als Ceres, Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, ausgearbeitet sind. Der heimliche Star der Ausstellung, die putzige Ziegenfigur, trägt einen von Pietro Berninis Sohn Gian Lorenzo Bernini ergänzten Kopf. Er gilt als einer der bedeutendsten italienischen Bildhauer und Architekten des Barock.
In einer weiteren Nische auf dem Weg zum nächsten Saal hängt ein Relief mit einer Alltagsdarstellung aus einem Ladengeschäft. Das Grabrelief mit der Fleischereiszene stammt wohl aus hadrianischer Zeit und hat während der Restaurierung viele Ergänzungen erhalten. Die dreizeilige Inschrift im oberen linken Bereich sind Verszeilen aus dem Epos Äneis (I, 607) des römischen Dichters Publius Vergilius Maro, genannt Vergil. Sie lauten etwa: “Solange Schatten die Berghänge überqueren, solange der Himmel die Sterne nährt, wird dein Name immer geehrt und dein Ruhm ewig bestehen bleiben.”
Eine Statue des Flussgottes Nil befindet sich in einem der nächsten Ausstellungssäle in der Villa Caffarelli. Halb liegend, mit dem linker Arm auf einer Amphore gestützt, hält er in der rechter Hand einige Weizenähren. Sie symbolisieren Fruchtbarkeit und verweisen auf die Bedeutung des Flusses für die Landwirtschaft. In der Antike galt Ägypten als die Kornkammer des Römischen Reiches. Der antike Korpus des Flussgottes ist aus Basanitgestein, der Kopf aus Marmor. Die modernen Ergänzungen sind aus hellerem Marmor.
Die stehende Venus in diesem Saal, die einst zur Cesarini-Sammlung gehörte, ist eine leicht überlebensgroße Marmorstatue der antiken Göttin vom Darstellungstyp Medici bzw. Kapitolinische Venus. Sie zeigt die römische Göttin der Liebe und Schönheit als Nachbildung und Variante der berühmten Aphrodite von Knidos des griechischen Bildhauers Praxiteles. Die ebenfalls weitverbreitete Darstellung der griechischen Schutzgöttin und Namensgeberin der Stadt Athen sowie Göttin der Weisheit Athena, stammt ursprünglich aus der Villa und Sammlung des Kardinals Rodolfo Pio da Carpi, wie auch die Skulptur der Nymphe oder Mänade im folgenden Saal. Nymphen und Mänaden gehörten, anders als Venus und Athena, nicht in die Top-Liga der antiken Gottheiten, sondern waren Teil deren Gefolges. Mänaden waren die Begleiterinnen des Weingottes Dionysus, während Nymphen auch als Personifikationen von Naturkräften auftraten.
Direkt am Ausgang befindet sich die Sitzstatue des griechischen Philosophen Chrysippos von Soloi. Er lebte im 3. Jahrhundert vor Christus und beschäftigte sich mit Fragen der Logik. Von ihm stammt die klassische Aussagenlogik, bei der jeder Aussage genau einer der zwei Wahrheitswerte wahr und falsch zugeordnet werden kann.
Das letzte Ausstellungsstück ist eine aus insgesamt 112 Fragmenten zusammengesetzte Statue, die den jungen Herkules mit einer Löwenhaut über dem Arm zeigt. Die Arbeit ist eine Nachahmung des Stils antiker Bildhauer und aus antiken, überarbeitete und – wie die beiden Hände – neuen Fragmenten zusammengesetzt.
Den 335 Seiten umfassenden und 2kg schweren Ausstellungskatalog “The Torlonia Marbles: Collecting Masterpieces” gibt es für 39 Euro im Museumsshop und bald auch bei Amazon. Für 10 Euro gibt es vor Ort auch einen schmalen Ausstellungsführer.