Der Rationalismus in Neapel: Ein kleiner Spaziergang durch die Hauptstadt Kampaniens auf den Spuren des faschistischen Architekturstils mit seinen Reminiszenzen an die Antike.
Razionalismo bezeichnet die an der Moderne des Neuen Bauens orientierte Architektur in Italien in den 1920 und 30er Jahre, in der es aber bereits zum Austausch mit neoklassizistischen Formen kam. In dem 1926 herausgegebenen Manifest des italienischen Rationalismus wurde eine Architektur propagiert, die sich sowohl an modernen wie auch an klassischen – in der römischen Antike begründeten – Kompositionsprinzipien wie Symmetrie, Proportion usw. orientiert. Wie auch in anderen italienischen Städten, beispielsweise Palermo, Brescia oder Rom, finden sich Bauten im Stil des Rationalismus in Neapel an vielen Stellen im Stadtbild wieder. Mal unscheinbar eingefügt in einen Straßenzug, mal wuchtig einen öffentlichen Platz dominierend.
In der Nähe des Litoranea-Vergnügungsparks befindet sich an der Via Cesario Console ein Gebäude, dass in den Jahren 1935 bis 1938 erbaut wurde und in dem heute die Ortsgruppe Neapel des Italienischen Marineverbandes (Associazione Nazionale Marinai d’Italia) ihren Sitz hat. Gerade Linien, verbauter Travertinstein, Marmorportale und die reduzierte Ornamentik antiker Adlerstandarten am Eingangsbereich verweisen auf den rationalistischen Architekturstil. Passend dazu befindet sich eine bronzene Augustus-Statue in dem kleinen Grünstreifen gegenüber.
In Blickweite und direkter Nachbarschaft des Gebäudes befindet sich Neapels Hafen. Auch die Passagierterminals wurden im Stil des italienischen Rationalismus gebaut. Im Jahr 1936 für den Linienverkehr nach Übersee eröffnet, fertigt die Stazione Marittima di Napoli heute Kreuzfahrtschiffe ab. Zwischen den riesigen Schiffen nimmt sich der Bau nach einem Entwurf von Cesare Bazzani vergleichsweise bescheiden aus. Teile der Außendekoration zeigen steinerne Medaillons, die verschiedene geografische Orte symbolisieren: Ostafrika, Rom, Athen, Kairo, Rio de Janeiro, Kalkutta und natürlich Neapel.
Auch die Gestaltung der Gänge, Treppen und Hallen in den Terminals folgt den Architekturprinzipien des Rationalismus. Durch die großen Panoramafenster im Eingangs- bzw. Ausgangsbereich sieht man im Hintergrund den Hügel Vomero und die Festung Castel Sant’Elmo.
Etwas entfernt vom Hafen befindet sich im Stadtkern Neapels die heutige Piazza Giacomo Matteotti. Hier wurden in den 1930er Jahren mehrere große Gebäude im Stil des Rationalismus gebaut. Die dort zuvor bestehenden Häuser wurden abgerissen und durch ein staatliches Bauprogramm wurde das wuchtige Post- und Telegrafenamt (Palazzo delle Poste) errichtet. An den anderen Seiten des öffentlichen Platzes liegen das Haus des Invaliden (Casa del Mutilato) und der Sitz der Provinzverwaltung (Palazzo della Provincia). Außerdem das Polizeipräsidium (Palazzo della Questura) und ein Wohngebäude (Palazzo Troise).
Die Hauptfassade des Palazzo delle Poste der Architekten Giuseppe Vaccaro und Gino Franzi ist konvex geschwungen und besteht aus gelblichen Marmor aus Valle Strona. Den Mittelpunkt und Eingang des Post- und Telegrafenamtes bildet ein rechteckiges Portal von 18 Metern Höhe. Nach wie vor wird das Gebäude als Postamt genutzt.
Beim Betreten des Eingangsbereiches blickt man direkt auf die Skulptur einer Viktoria von Arturo Martini. Mit ihr wird den Gefallenen gedenkt, die 1922 beim faschistischen Marsch auf Rom ums Leben kamen. Beim Verlassen des Gebäudes durch die Eingangshalle fällt der Blick durch die hohen Fenster auf das gegenüber liegende Polizeipräsidium und das Haus der Kriegsversehrten.
Das Casa del Mutilato wurde von Camillo Guerra entworfen und in den Jahren 1938-1940 gebaut. Der markante Eingangsbereich mit der innenliegenden Treppe wird von einer Siegesstatue gekrönt. Die Fassaden besteht aus Travertinstein, der Sockel aus Lavastein. Der Sitz der Provinzverwaltung (Palazzo della Provincia) wurde bereits vier Jahre früher fertiggestellt und von Marcello Canino und Ferdinando Chiaromonte geplant. An der Vorderseite befindet sich ein Portal mit Flachreliefs in Bronze von Carlo De Veroli. Dargestellt sind Soldatenfiguren in einer Allegorie als antiken Helden. De Veroli schuf auch einige der monumentalen Marmorstatuen, die das Stadio dei Marmi in Rom umgeben.
Ein bisschen weiter, an der Via Toledo, liegen kurz hintereinander zwei weitere Gebäude im Stil des Rationalismus: die einstige Banco di Napoli und das Gebäude der damaligen Sozialversicherungsanstalt. Der ehemalige Hauptsitz der Banco di Napoli wurde 1940 eingeweiht und von Marcello Piacentini geplant. Die Fassade an der Via Toledo hat hinter einer kurzen Treppe einen Portikus mit fünf Bögen. Oberhalb des Sockels ist der zentrale Gebäudeteil durch sechs Säulen gekennzeichnet, zwischen denen sich eine doppelte Fensterreihe befindet. Bis zur Verschmelzung mit der Intesa Sanpaolo war die Banco di Napoli, deren Vorläufer bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, das wohl älteste Kreditinstitut der Welt. Heute ist hier ein Museum beheimatet, die Gallerie d’Italia von Intesa Sanpaolo.
Nur ein paar Schritte weiter befindet sich das Gebäude der ehemaligen Sozialversicherungsanstalt aus der Mussolinizeit. Es wurde zwischen 1933 und 1938 erbaut und von Armando Brasini entworfen. Der Bau mit dem markanten im 45-Grad-Winkel ausgerichteten Turm ist vollständig mit Travertinstein verkleidet. Heute wird das Haus von der Banca Nazionale del Lavoro genutzt.
Leider konnte ich über dieses Gebäude am Corso Umberto I Ecke Via Eletto Starace nichts in Erfahrung bringen, auch nicht über archINFORM, der weltweit größten Online-Datenbank für Architektur. Nach dem Baustil und dem verwendeten Material zu urteilen, müsste es aber auch aus den 1930er oder 1940er Jahren stammen.
Mehr zum Thema im Band Städtebau für Mussolini, herausgegeben von Harald Bodenschatz und 2022 in einer zweiten, erweiterten Auflage erschienen.