Alle Beiträge·Germanien

Haltern am See – Rom in Westfalen 2.0: Roms fließende Grenzen

Nur 30 Jahre waren die alten Römer im heutigen Haltern. Seit 100 Jahren wird archäologisch ausgegraben und immer mal wieder kommen außergewöhnliche Stücke zum Vorschein oder können aus kleinen und kleinsten Fundstückchen rekonstruiert werden. Die Ausstellung Rom in Westfalen 2.0 zeigt sie.

Das Vorhaben, Germanien zu einer römischen Provinz zu machen, scheiterte im Jahre 9 mit der Varusschlacht. Auch der anschließende Rachefeldzug des Germanicus war vor allem ein Propagandaerfolg. Tatsächlich musste die römische Wölfin vor dem germanischen Terrier den Schwanz einziehen, wie es blumig auf einer Schauwand in der Ausstellung formuliert ist. Rom zog sich hinter den Rhein zurück, der zur fließenden Grenze wurde und gab die rechtsrheinischen Militärstandorte auf. Im Rahmen der aktuellen archäologischen Landesausstellung in Nordrhein-Westfalen werden in Haltern neue Fundstücke und Rekonstruktionen gezeigt.

Zum Beispiel die Schulterplatten eines im Jahr 2018 in Kalkriese bei Osnabrück neu entdeckten und inzwischen restaurierten römischen Schienenpanzers aus Eisen. Der antike Körperschutz der römischen Legionäre ist fast vollständig erhalten und derzeit das älteste bekannte Exemplar dieses Rüstungstyps aus der römischen Welt. Eine Rekonstruktionszeichnung zeigt sein Aussehen, dass sich von dem bekannten Corbridge-Typ aus England unterscheidet.

Nicht weniger interessant und schön anzusehen ist der Nachbau einer römischen Liege. Unzählige Klein- und Kleinstteile dieses Möbelstücks aus Knochen und Holz wurden mit Hilfe eines 3D-Druckers rekonstruiert. Klinen standen sowohl im Schlafzimmer als auch im Speisesaal römischer Häuser, wurden aber auch zur Totenbestattung durch Verbrennen verwendet. Nachdem die Kline vor vier Jahren in der Sonderausstellung Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland in Berlin und danach an weiteren Orten gezeigt wurde, ist sie nun dauerhaft im LWL-Römermuseum in Haltern zu sehen.

IMG_4471-scaled
Legionärsdolch mit Scheide aus Eisen, Buntmetall, Holz, Glas, Emaille und Fragmente des Gürtels aus Buntmetall, Leder und Flachsgarn

Schmuckstück der Ausstellung in Haltern ist ein Jahrhundertfund aus dem Jahr 2019: ein römischer Dolch, ein sogenannter Pugio. Der Dolch und die reich verzierte Scheide sind vollständig erhalten, ebenso auch Beschläge und die Schnalle des Gürtels. Die Einlegearbeiten aus Silber zeigen Lorbeerkränze, Mondsicheln und sogar einen Dolch in Miniatur. Außerdem hat die Scheide Einlagen aus rotem Emaille und ebenfalls rotem, echtem Glas. Nach neunmonatiger Restaurierung ist aus dem Rostklumpen wieder ein schönes vielfarbiges Schmuckstück aus Schwarz, Silber, Rot und Gold geworden. Pugio dienten den Legionären nicht nur als Zweitwaffe, sie waren vielfach auch Statusobjekt der Soldaten. Außergewöhnlich ist auch der Fundort des Dolches. Er lag in einem Gräberfeld. Üblicherweise gaben die Römer den Verstorbenen keine Waffen als Grabbeigaben mit. Mehr über den Pugio und auch das Cingulum, den Waffengürtel, erfährt man in einem Video der LWL-Archäologie für Westfalen.

Hinter dem Römermuseum in Haltern begann vor zehn Jahren die Rekonstruktion der Wehrmauer und eines Tores des Hauptlagers. Es wurde an genau an der Stelle errichtet, an der auch zu römischen Zeiten die Holz-Erde-Mauer mit einem Lagertor stand. Etwa 5000 römische Legionäre waren wohl im Lager Haltern stationiert. Es nahm eine Fläche von 29 Fußballfeldern ein und wies die übliche Infrastruktur einer militärischen Anlage auf wie Wohnbaracken, Verwaltungsgebäude, Sanitätseinrichtungen, Werkstätten und Appellplätze. Aktuell wird ein Wachhaus neben dem Lagertor wieder aufgebaut.

IMG_4463-scaled
Das knapp 120 Quadratmeter große Wachhaus in römischer Fachwerktechnik entsteht

Man geht heute davon aus, dass das Römerlage Haltern das antike Kastell Aliso ist, das die Römer unmittelbar nach der Varusschlacht noch erfolgreich verteidigt und dann aufgegeben haben. Gut geschützt waren die Römerlager durch die umlaufenden Spitzgräben vor den Lagermauern und die auf und hinter den Wällen aufgestellten Torsionsgeschütze der römische Artillerie. Sie verschossen Katapultbolzen über große Entfernungen und mit durchschlagender Wirkung.

Die Militäranlagen von Aliso umfassten auch ein Uferkastell an der Lupia, dem heutigen Fluss Lippe, an dem Versorgungsschiffe anlegten und Patrouillenboote stationiert waren. Zu der kleinen Marinebasis der römischen Flotte in Germanien gehörten auch Schiffe wie die vor 15 Jahren nach archäologischen Funden aus Bayern nachgebaute “Victoria”. Zurzeit überwintert sie auf ihrem modernen Bootsanhänger hinter den rekonstruierten Lagermauern.

IMG_4464-scaled
Originalgetreuer Nachbau eines römischen Patrouillenbootes

Was wollten die Römer überhaupt in Germanien? Bernstein, Blei und blondes Frauenhaar? Die Videoserie Rom in Westfalen nimmt in drei Episoden die römische Geschichte Westfalens in den Blick. Die Moderatoren werden unterstützt von drei römischen Reenactment-Gruppen: dem Projekt Römer für Aliso, der Legio XIX Cohors III aus Bergkamen und der I. Römercohorte Opladen.

IMG_4465-scaled
Dienst in Germanien

Sonderausstellung Rom in Westfalen 2.0 im Rahmen der archäologischen Landesausstellung Nordrhein-Westfalen 2021/2022 im LWL-Römermuseum Haltern am See noch bis zum 30. Oktober 2022.

Die weiteren Standorte der archäologischen Landesausstellung: Bonn, Detmold, Köln, Xanten.

Dies war nicht mein erster Besuch im Museum und Römerlager Haltern: Hier gibt Fotos und Texte meiner Besichtigungen aus den Jahren 2016 und 2018.

Weiterlesen:

Hinterlasse einen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert